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Ioanna Karystiani: Schattenhochzeit

  569 Wörter 2 Minuten 1.017 × gelesen
2017-01-11 2017-04-24 11.01.2017

Von Amerika, wo der gebürtige Kreter Kyriakos Roussias als angesehener Aidsforscher arbeitet, in sein Heimatdorf auf der Hochebene in den Bergen Kretas: Nicht nur rein räumlich durchmisst der Hauptakteur in Ioanna Karystianis jüngstem auf Deutsch im Frankfurter Suhrkamp Verlag erschienenen Roman "Schatten-hochzeit" Welten. Denn Roussias, der nach 28 Jahren erstmals an den Ort seiner Kindheit zurückkehrt, sieht sich plötzlich mit dem archaischen Ritual der Blutrache konfrontiert. Kann sich der Wissenschaftler dem ungeschriebenen Gesetz der Vendetta, das ihm mit jedem Tag seines Aufenthaltes auf Kreta vertrauter wird, entziehen?

Als 15-Jähriger hat Kyriakos Roussias 1970 seine Heimat verlassen, weil ihn sein Vater aus der blutigen Familienfehde heraushalten wollte. Roussias wächst bei seiner Patentante in Illinois auf, studiert Physik in New York, schreibt seine Doktorarbeit in Chicago, lehrt in Boston, Philadelphia und Houston. Nicht einmal in seinen Ferien kehrt er in all den Jahren zurück nach Kreta. Das hat seinen Grund: Nachdem der Vater kurz nach Kyriakos Roussias’ Weggang, von einem Cousin seines Sohnes erschossen, selbst Opfer der Fehde wurde, ist gemäß dem Gesetz nun Roussias an der Reihe, den Mord an seinem Vater zu vergelten. Als der Wissenschaftler Roussias im Juli 1998 nicht wie ursprünglich geplant den Flieger nach Tokio nimmt, wo er einen Vortrag halten soll, sondern überraschend nach Kreta reist, hat der Zwist bereits insgesamt sieben Familienmitgliedern das Leben gekostet.

Zahlreiche Personen bevölkern den überaus spannenden Roman um Familiengeschichten, um Probleme zwischen Familienangehörigen. Deren einzelne Schicksale zeichnet die Autorin manchmal nur mit wenigen Strichen, einfühlsam, aber nicht sentimental. Aufmerksamkeit ist gefordert, denn Karystiani erzählt die Handlung nicht linear und arbeitet oft mit Andeutungen, ihre Sprache ist mitunter spröde. Personen und Geschichten tauchen auf und verschwinden wieder. Alle Facetten fügen sich schließlich zu einem ungewöhnlich plastischen Bild einer in sich geschlossenen Inselgesellschaft zusammen, die zwar gerne von der Tradition loskommen möchte und doch auf archaischen Ritualen beharrt.

Kyriakos Roussias wird, als es schließlich zu einer dramatischen Begegnung mit seinem gleichnamigen Cousin, dem Mörder seines Vaters, kommt, nicht zur Waffe greifen. Er entschließt sich gegen den Mord an seinem Cousin und unterbricht den jahrelangen tödlichen Kreislauf der Blutrache. Karystiani lässt die Vernunft siegen, denn sie interessiert nicht, "wer tötet, sondern wer es vermag, nicht zu töten".

 Der Wissenschaftler kehrt nach Amerika zurück – "und fühlt sich zum ersten Mal komplett. Mit Vater, Cousin und der restlichen Sippe. Mit Gräbern, Elternhaus und Kinderjahren...Mit einem Geburtsort und einer ersten Liebe. Und alles mit Namen, Farben und Jahreszahlen."

"Schattenhochzeit" – ins Deutsche übertragen von Michaela Prinzinger, die jüngst den Deutsch-Griechischen Übersetzerpreis erhielt - ist der zweite Roman von Ioanna Karystiani, die 1952 auf Kreta geboren wurde, sich zunächst als Cartoonistin und Drehbuchautorin einen Namen machte und heute in Athen und auf der Insel Andros lebt. Ausgezeichnet wurde der Roman mit dem Preis der Athener Akademie und dem Diavaso-Literaturpreis. Für ihr Erstlingswerk, den auf Deutsch ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienenen Roman "Die Frauen von Andros" (übersetzt von Norbert Hauser), wurde sie unter anderem mit dem griechischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet. Auch in "Die Frauen von Andros" erzählt Karystiani Familiengeschichten - und zwar von Männern, die zur See fahren, und von Frauen, die an Land zurück bleiben und die Verantwortung für Familie und Haus tragen. Auch in diesem Roman werden wie in "Schattenhochzeit" Welten zurückgelegt – und zwar zwischen der Enge der Inselheimat und der Weite der Ozeane.

Ioanna Karystiani
Schattenhochzeit. Roman.
Suhrkamp Verlag.
392 Seiten.

Ioanna Karystiani
Die Frauen von Andros. Roman.
Suhrkamp Taschenbuch Verlag.
293 Seiten.

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